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Wanderers Nachtlied

GoetheLiebe Weinfreundin, lieber Weinfreund,

„Über allen Gipfeln ist Ruh’,
In allen Wipfeln spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest Du auch.“

 

Dieses wohl kürzeste Gedicht aus der Feder Johann Wolfgang von Goethes mit dem Titel „Wanderers Nachtlied“ beweist trefflich, warum der Geheimrat aus Weimar zweifelsohne zu den größten Dichtern und Denkern Deutschlands zählt. Aber nicht nur Goethe, auch Männer wie Schiller, Heine, Eichendorf, Kleist und Lessing formten in Lyrik und Prosa die deutsche Sprache zu jenem Juwel, das noch heute in aller Welt geschätzt wird.

Doch was sind die Schöpfungen all dieser großen Schriftsteller gegen die sprachlichen Meisterwerke, die Weintester regelmäßig verfassen, wenn sie einen edlen Tropfen Rebensaft beurteilen? Reinste Kindergartenlyrik! Denn blumig und poesievoll präsentiert sich die Sprache des Weinfreundes, wenn er Duft, Farbe und Abgang eines Riesling, Bordeaux oder Cabernet Sauvignon analysiert und mit derlei sprachlicher Virtuosität zugleich auch noch den Ruf der Weintrinker als Gourmets zementiert. Und als Intellektueller ersten Ranges. Denn wer von schweißigem Bouquet und ledernem Abgang fabulieren kann, der steht für gewöhnlich in einer Reihe mit Größen wie Marcel Reich-Ranicki und Roger Willemsen.

Eindrucksvolle Formulierungen lassen sich auch regelmäßig die Weinhändler einfallen, um ihre Tropfen zu beschreiben und damit an den Mann zu bringen. Da „verbindet sich eine opulente Frucht mit klaren mineralischen Noten, was zusammen in eine äußerst interessante Komplexität mündet“,  da „entfaltet sich im Mund eine frische Säure, die zu dem dezenten Grapefruitgeschmack ausgezeichnet passt“ und manchmal spürt der Kenner am Gaumen „ein süßliches Bouquet mit viel Schwarzbeeren, Cassis und Brombeergelee“, das als „essenzhaftes Elixier vor unbändiger Kraft strotzt und mit einer enormen Tiefe versehen ist“. Doch damit nicht genug. Oftmals schafft ein Wein auch den „Spagat zwischen Eleganz, Komplexität und Intensität“ oder verfügt über eine „zarte Muskat Nase und zeichnet sich durch eine blumige Fruchtigkeit am Gaumen aus“. Wer, der solcherlei Beschreibungen liest, verspürt eigentlich noch das Bedürfnis nach den Werken Goethes, Schillers oder jedweden anderen großen Lyrikers?
 
Während also der Weintrinker als Gourmet gilt und sich sprachlich auf einer Ebene mit den großen Dichtern und Denkern unseres Landes bewegt, fristet der Biertrinker sein stumpfes Dasein als Gourmand und Dumpfbacke. Literweise kippt er den goldenen Hopfentrunk in seinen gierigen Schlund – vorzugsweise auf Volksfesten wie dem dieser Tage stattfindenden Oktoberfest in der bayerischen Landeshauptstadt München – und ist damit scheinbar Lichtjahre von jener exklusiven Kaste  lyrisch bewanderter Weinfreunde entfernt, die mit mitleidigem Blick auf ihn herabschauen.

Doch wie so oft im Leben trügt der Schein! Denn ganz abgesehen davon, dass es allein in Deutschland über 1.300 verschiedene Brauereien und dementsprechend viele unterschiedliche Sorten Bier gibt, hat sich auch der Biertrinker mit Niveau mittlerweile vom „auf ex Kipper“ zum wahren Experten in Fragen des Gebräus aus Hopfen und Malz gewandelt. Seine Beschreibungen der verschiedenen Biersorten kommen mittlerweile ähnlich blumig daher wie die oben zitierten Ergüsse der Weintrinkerfraktion. So veröffentlichte beispielsweise bereits im Jahre 1986 ein Herr namens Michael Jackson – meines Wissens nach nicht verwandt oder verschwägert mit dem kürzlich verstorbenen Erfinder des „Moon Walk“ – ein Buch, in dem er 2.000 Biermarken aus aller Welt vorstellt und geschmacklich charakterisiert.

Da erfährt der geneigte Leser zum Beispiel, dass das von der Brauerei „Feldschlösschen“ hergestellte „Duckstein“ ein „bernsteinfarbenes, malzig fruchtiges Bier mit hopfigem und ausgeprägt herbem Abgang ist, welches über Buchenspänen gereift wird“. Das mit vier Sternen ausgezeichnete Alt der Düsseldorfer „Füchschen Brauerei“ ist dagegen „voll in Aroma, Schaumkrone, Körper und Geschmack und erfüllt den Gaumen fast gleichzeitig mit einer großen, festen Malzigkeit und einem ölig-herben Hopfenaroma“. Noch mehr an die Beschreibungen edler Weine erinnert Jacksons Analyse des von der Münchener Augustiner Brauerei hergestellten „Edelstoffs“. Denn dieses „gelbbraune Dunkel hat eine feste Schaumkrone, einen leichten bis mittelschweren Abgang und eine schöne Ausgewogenheit zwischen rumartiger Süße und kaffeeähnlicher Herbheit“.
 
Sie sehen: Der Biertrinker kann auch anders! Genau so wenig, wie also Dummheit frisst und Intelligenz säuft, ist der Biertrinker per se ein hirnloser Gourmand während der Weintrinker ein intellektueller Gourmet ist. Die Grenzen sind – wie so oft im Leben – fließend! Und mit dieser versöhnlichen Note schließe ich meine heutige Botschaft an Sie und grüße Sie herzlichst als Ihr unbekannt im Äther des Internet herum geisternder

Engelo

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